„Betrifft: Evakuierung von Juden“

Die Deportation von Jüdinnen und Juden aus dem Münsterland nach Riga am 13. Dezember 1941

hier
geht es
weiter

Münster, Rheine, Ahaus, Borken, Coesfeld, Warendorf, Borghorst, Oelde, Laer, Südlohn, Epe, Werne, Ibbenbüren, Gescher: Das sind nur einige Orte im Münsterland, von denen Anfang Dezember 1941 die Verschleppung von jüdischen Einwohnern nach Riga ihren Ausgang nahm. Mit den frühen Deportationen ab Herbst 1941 war der Schritt von der Ausgrenzung, Entrechtung und Vertreibung im „Großdeutschen Reich“ zur systematischen Verschleppung und Ermordung der deutschen Juden im besetzten Osteuropa vollzogen.

18 Personen, darunter ein Kind, eng beieinanderstehend mit Taschen und Beuteln in den Händen, mehrheitlich mit Hüten auf dem Kopf. Auf der linken Brust eingenähte „Judensterne“.
Coesfeld, 10. Dezember 1941: 19 Jüdinnen und Juden, die im „Judenhaus“ Kupferstraße 10 zwangsweise wohnen mussten, wurden in den frühen Morgenstunden in den Schlossgarten geführt. Mit Lastwagen wurden sie anschließend zum Sammellager nach Münster gebracht. Am 1. September 1941 hatte das nationalsozialistische Regime den „Judenstern“ eingeführt, ein weiterer Schritt der öffent­lichen Diskriminierung und Demütigung jüdischer Menschen.

Am 13. Dezember 1941 verließ ein Personenzug der Deutschen Reichsbahn mit 390 münsterländischen Jüdinnen und Juden den Bahnhof in Münster. In Osnabrück wurden weitere 222 und in Bielefeld 419 Juden aus Niedersachsen und Westfalen aufgenommen. Am 16. Dezember 1941 erreichte der „Sonderzug“ Riga im deutsch besetzten Lettland. Der Weg der Deportierten führte in das wenige Monate zuvor eingerichtete Ghetto. Von den insgesamt 1.031 verschleppten Personen dieses Transports überlebten den nationalsozialistischen Terror und Massenmord, die Internierung und Zwangsarbeit in Riga gerade einmal 102 Männer und Frauen.

Zehn Personen in Mänteln, einige Blicken in die Kamera, einige daneben.
Stadtlohn, 10. Dezember 1941: Vor der Polizeistation wurden zehn Jüdinnen und Juden öffentlich zur Schau gestellt, bevor sie nach Münster in das Sammellager verbracht wurden. Die Hitlerjugend und der Bund Deutscher Mädel begleiteten die Abholung mit antisemitischen Schmähungen. „Sie haben auch den Juden ins Gesicht gespuckt.“, so der damalige Stadtlohner Pfarrer, der 1947 in einem Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen NSDAP-Ortsgruppenleiter ausgesagt hat. Der jüngste Verschleppte (3. v.l.) auf dem Foto ist 13 Jahre alt, er hat die Deportation nach Riga überlebt.

Zwischen November 1941 und Oktober 1942 fanden insgesamt 25 Transporte nach Riga statt. Von 13 Ausgangsorten im „Großdeutschen Reich“ wurden ca. 25.000 Menschen jüdischer Herkunft nach Riga deportiert, von denen nur
ca. 1.000 überlebten.

Die „Evakuierungs“-Anweisung der Gestapo Münster, 18. November 1941

Am 18. November 1941 wies die Staatspolizeileitstelle Münster der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) die Kommunalverwaltungen im Regierungsbezirk Münster an, die Deportation nach Riga in der Region vorzubereiten. Die Verschleppung sollte am 13. Dezember von Münster aus nach Riga erfolgen. Die in Frage kommenden Jüdinnen und Juden mussten bis zum 11. Dezember im „Gertrudenhof“, einer Münsteraner Gaststätte mit großem Saal, „übergeben“ werden.

Kurzer Ausschnitt eines Schreibmaschinendokumentes.
Die Verfügung hat der SS-Offizier Dr. Gerhard Bast verfasst, seit Juli 1941 stellvertretender Leiter der Gestapo in Münster. Später wurde er als Führer von Sonderkommandos der Einsatzgruppen im besetzten Osteuropa eingesetzt. Die „Weltanschauungskrieger“ der nationalsozialistischen „Rassen“-Ideologie und „Lebensraum“ -Politik verübten dort zahllose Massenmorde an der Zivilbevölkerung, insbesondere an der jüdischen Bevölkerung.

Die Gestapo-Anweisung verfolgte zwei Ziele: Zum einen ging es um die Erfassung des Eigentums und Vermögens der „zu evakuierenden Juden“. Der Beschlagnahmung folgten die Ausplünderung und Enteignung. Insbesondere die Städte und Gemeinden sowie der Fiskus bereicherten sich. Die Deportierten hingegen verloren Haus bzw. Wohnung, Geld und Wertgegenstände, Kleidung, Mobiliar… Zum anderen teilte die Gestapo die Vorgaben mit, was die Deportierten auf den Transport mitzunehmen hatten bzw. was verboten war mitzunehmen.

Kurzer Ausschnitt eines Schreibmaschinendokumentes.
Die Bestimmungen zum Gepäck sollten vortäuschen, dass die Deportierten zu einem „Arbeitseinsatz im Osten“, wie es in anderen Transportverfügungen hieß, verbracht würden. Das Verbot der Mitnahme von Messern und Gabeln sowie von Rasierzeug war eine Vorsichtsmaßnahme - so wollte man Selbstmorden bzw. Widersetzlichkeiten während des Transports vorbeugen.

Täter-
Dokument:

Das „Verzeichnis der evakuierenden Juden aus dem Bereich
der Staatspolizeileitstelle Münster nach Riga“, 10. Dezember 1941

Tatort

Sammellager und Bahnhof

Vom Deportationsgeschehen in Münster sind keine Fotos überliefert, wohl aber für Bielefeld, wo der Transport von Münster und Osnabrück einen weiteren Zwischenstopp einlegte. Die Bielefelder Fotoserie ist im offiziellen Auftrag der Stadt für die „Kriegschronik“ angefertigt worden. Sie zeigt das Sammellager und den Bahnhof als Tatorte der gewaltsamen Verschleppung.

Großer Raum, im hinteren Eck viele Stühle auf einem Haufen, davor Menschen liegend oder sitzend auf Stroh oder Decken.
Links zwei Personen vor einer Gebäudemauer mit Kissen und Decken, dahinter Menschenmenge, einige schauen auf die Personen.

Die Gaststätte „Kyffhäuser“ diente als Sammelstelle der ostwestfälischen Jüdinnen und Juden, wo sie registriert und durchsucht wurden. Am Morgen des 13. Dezembers 1941 transportierte man sie zum Hauptbahnhof. Dort trafen sie auf die aus Münster und Osnabrück Verschleppten und wurden in die leeren Personenwagen 3. Klasse eingewiesen. Zuständig für die Bewachung am Bahnhof und während des Transports nach Riga war ein fünfzehn­köpfiges Begleitkommando der Ordnungspolizei.

Drei Personen vor einer Mauer eines Gebäudes mit großem Fenster und großem Tor, ein Mann hält Bettzeug in den Händen, an den Füßen liegt Gepäck.
Vollbesetzter Zug, Kinder und Erwachsene schauen aus dem Fenster, davor ein uniformierter Mann und viele Menschen mit Bettzeug und Taschen.
Die Verschleppung begann vor Ort in der Heimat – und sie fand öffentlich statt, vor aller Augen. Sammellager und Bahnhof an den Ausgangsorten der Transporte machten das Deportationsgeschehen sicht- und erkennbar.

Erläuterung:
Ab dem 1. Januar 1939 mussten jüdische Deutsche einen zusätzlichen Vornamen annehmen, der sie in amtlichen Dokumenten als Jude bzw. Jüdin kenntlich machte: „Israel“ für Männer und „Sara“ für Frauen, abgekürzt mit „I.“ und „S.“.
Die Juden aus Coesfeld und Stadtlohn, die auf den Gruppenfotos zu sehen sind, sind namentlich bekannt. Die 19 Personen aus Coesfeld sind in der Münsteraner Deportationsliste rosa markiert, die 10 Personen aus Stadtlohn blau.

„Nach zweitägiger Fahrt in einem ungeheizten Zug kamen wir auf dem Verladebahnhof in Riga an. Wir mußten aber noch die ganze Nacht im Zug bleiben. Am anderen Morgen, als es hell wurde, sahen wir ringsum hohen Schnee. Wir merkten, daß wir im Osten waren, denn die strenge Kälte machte sich bemerkbar. Etwas später kam die SS mit Gummiknüppeln und trieb uns aus dem Zug. So hatten wir gleich einen schönen Empfang und einen kleinen Vorgeschmack für unser künftiges Leben.“

Irmgard Heimbach verh. Ohl: Als Jugendliche im KZ. Erinnerungen an Riga (1997)

Tatort Riga

Die gebürtige Münsteranerin Irmgard Heimbach (1927-2013) wurde am 13. Dezember 1941 von Osnabrück aus mit ihren Eltern nach Riga deportiert. Sie war fast 14 Jahre alt, als sie die Ankunft auf dem Bahnhof Skirotava erlebte. Die Leidenswege der Familie Heimbach verweisen auf eine Reihe von Tatorten der Shoah in Riga. Nach der Ankunft wurde die Familie im neu eingerichteten „Reichsjuden-Ghetto“ in der Moskauer Vorstadt von Riga interniert.

Vater Siegfried Heimbach hatte Zwangsarbeit beim Aufbau des KZ Salaspils zu leisten. Schon Anfang April 1942 erlag er den unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen. Mutter Henny Heimbach und Tochter Irmgard überlebten die Zwangsarbeit in der Kriegswirtschaft. Mit der Auflösung des Ghettos 1943 wurden sie in das KZ Kaiserwald überstellt und im Oktober 1944 in das KZ Stutthof bei Danzig rückverlegt. Nach der Befreiung durch russische Truppen Ende Januar 1945 kehrten Henny Heimbach und ihre achtzehnjährige Tochter Irmgard im Sommer 1945 nach Osnabrück zurück.

Irmgard Heimbach steht vor einer großen Fotografie mit einigen Schulkindern, eine Markierung zeigt ihr Gesicht auf dem Foto.
2008 besuchte Irmgard Heimbach verh. Ohl die Sonderausstellung „Deportationen aus dem Münsterland“, erarbeitet vom Geschichtsort Villa ten Hompel und von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Münster. Frau Ohl steht vor einem Foto von 1940, das die letzten Schüler und Lehrer der jüdischen Volksschule in der Marks-Haindorf-Stiftung in Münster zeigt (Irmgard Heimbach siehe roter Kreis). Von den 24 Kindern und Jugendlichen sowie fünf Erwachsenen sind allein 20 Schüler und Lehrer sind nach Riga deportiert worden. Von den 29 Personen überlebten nur fünf Kinder die Shoah, darunter Irmgard Heimbach.

Deportations-Gedenken im Münsterland und in Riga

Die Shoah-Gedenkkultur in der Bundesrepublik hat sich seit den 1980er Jahren stark verändert, nicht zuletzt auf regionaler und lokaler Ebene. Lebensläufe und Familien­geschichten werden erforscht, namentliches Gedenken steht im Mittelpunkt. Die Schicksalswege werden benannt und mit den Orten der Verschleppung und Vernichtung in der Heimat wie im ehemals besetzten Europa verknüpft.

Drei feuchte Stolpersteine umgeben von roten Pflastersteinen.
Das bekannteste Beispiel für die Individualisierung und Lokalisierung des Gedenkens ist das Kunstprojekt „Stolpersteine“ von Gunter Demnig (Köln). So erinnern z.B. in Warendorf seit 2014 Stolpersteine an die Geschwister Spiegel. Arnold und Ella Spiegel wurden am 13. Dezember 1941 von Münster aus nach Riga deportiert, wo sich ihre Spur verliert.
Dunkler glatter Stein mit Blumen darauf umgeben von Zapfen und kleinem Geäst.
Sammellager und Bahnhöfe werden als historische Tatorte entdeckt und als Gedenkorte an die Deportationen markiert. In Münster erinnert seit 1992 eine Gedenktafel an die „gewaltsamen und entwürdigenden Umstände“ der Festsetzung der münsterländischen Juden im Dezember 1941 in der damaligen Gaststätte „Gertrudenhof“.
Gruppenbild ausgefräst aus Stahl auf einer Wiese mit Wegen und Gebäuden in der Nähe.
Der lokale Tatort wird zum Erinnerungsort: An dem Ort, wo am 10. Dezember 1941 die Gruppe Coesfelder Juden nach Münster abtransportiert wurde, im Schlosspark von Coesfeld, steht seit 2019 eine Edelstahl-Installation, die das damals angefertigte Gruppenfoto aufnimmt und das Ereignis am authent­ischen Ort in der Gegenwart präsent macht.

Erst in postsowjetischen Zeiten, nach der Wende von 1989/90, konnte sich in Lettland ein öffentliches Gedenken an die Opfer der Shoah entwickeln, das zudem die einheimischen lettischen als auch die deportierten deutschen Juden berücksichtigt. Die Verbrechensorte der Massenerschießungen in den Wäldern von Rumbula und Bikernieki, wenige Kilometer außerhalb von Riga, sind heute würdige Gedenkstätten.

In Bikernieki wurden ab Dezember 1941 ca. 8.000 lettische Juden und ca. 12.000 deutsche Juden erschossen. Die 2001 errichtete Gedenkstätte wird u.a. vom Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge in Zusammenarbeit mit und dem Deutschen Riga-Komitee betreut. Aus deutscher Sicht ist Bikernieki der zentrale Ort des Gedenkens an die deutschen Opfer der Riga-Deportationen.

Im Mittelpunkt der Gedenkstätte in Bikernieki befindet sich ein Gesteinsfeld, in dem die Namenssteine der bislang ca. 60 Mitgliedsstädte des Riga-Komitees verlegt sind. Warendorf ist 2002 dem Städtebündnis beigetreten. Der Stein mit der Inschrift „Warendorf“ erinnert an alle jüdischen Einwohner der Emsstadt, die nach Riga deportiert worden sind - und somit auch an Arnold und Ella Spiegel.
Menschenmasse an einem Denkmal mit vor Säulen und kreuzförmigen Balken der die Säulen verbindet. Im Vordergrund hüfthohe raue Steinsäulen.

Idee u. Text: Matthias M. Ester M.A., Münster
Fotos: Stadtarchiv Coesfeld; Sammlung Christoph Spieker (Greven); Stadtarchiv Bielefeld; Geschichtsort Villa ten Hompel (Münster); Matthias M. Ester
Dokumente: Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen (Münster); Irmgard Ohl: Als Jugendliche im KZ. Erinnerungen an Riga (1997), in: Diethard Aschoff u. Gisela Möllenhoff: Fünf Generationen Juden in Laer. Leben und Schicksal in einer westmünsterländischen Kleinstadt, Münster 2007, S.194-210; Stadtarchiv Münster
Grafik: Vorlage Geschichtsort Villa ten Hompel (Münster), Überarbeitung: Matthias M. Ester u. Andreas Wessendorf