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Mikwe in
Borken-Gemen

Zwischen Heute und 
Gestern, Eintauchen
in vergessen Orte

Lebendiges
Wasser

Putten und Paradiesvögel. Rahmen mit üppigen Rundungen. Vergoldete Schnörkel. Spiegel in allen Größen und Formen. Lüster, Blumenvasen, Ziersäulen. Akkurat gefaltete Handtücher auf weiß-goldenen Haltern. Altmodisch wirkende Trockenhauben über den Waschbecken. Die Mitte des Raumes beherrscht eine massive antike Kasse. Zwischen weißer und goldener Pracht Rollhocker, Wasserhähne und Haarpflegeprodukte.

Holzvertäfelter Raum mit Spiegel, Wandleuchter und zwei Trockenhauben aus dem letzten Jahrhundert.
Trockenhauben über den
Waschbecken.
In der Oberen Hälfte der Friseursalon, darunter ein beleuchteter Raum, dazwischen der geöffnete Boden, sichtbarer Querschnitt des Fußbodens und der Steindecke.
Oben: Friseursalon, unten:
Kellervorraum zur Mikwe.

Mit Blick auf die schmale Straße schnippen die Scheren und rieseln die Haarspitzen.

Durch eine Tür nach hinten, wenige Stufen hinauf. Das emsige Geklapper verklingt. Auch hier Spiegel, Waschbecken und Handtücher. Barocker Stil. Dazwischen aber – eine Nische. Ein weißes Regal. Keine Schnörkel. In der Mitte steht ein neunarmiger Leuchter. Das Gebäude an der Neustraße 5 war seit Anfang des 19. Jahrhunderts in der Hand der jüdischen Kaufmannsfamilie Löwenstein. Dieser Raum ein Ort der Versammlung und des Gebets für die jüdische Gemeinde Gemens und der Umgebung. In dieser Nische stand der Thoraschrein, erklärt Berno Rohring.


Berno Rohring hat in den späten 1960er Jahren zunächst nur den Raum im Erdgeschoss gepachtet. Der Frisörmeister richtete hier seinen barocken Salon ein. Vor 15 Jahren kaufte er dann das denkmalgeschützte Haus, das nach dem Stadtbrand von Gemen ca. 1870 wieder aufgebaut worden war. Nach und nach renovierte er die anderen Räume. Dabei entdeckte er etwas, das den Stadtbrand überdauert hatte. Im Keller, zugeschüttet und vergessen.

In die Wand eingelassener Schrank mit Chanukkia. Darüber eine Blume und eine Uhr.
Schrank im Friseursalon mit
einem Hanukkahleuchter.

x_Orte sind auf den ersten Blick oft nicht zu erkennen, werden aber mit wenigen Hinweisen im Dialog von Wissenschaft und Alltag sicht- und erklärbar.

An der Wand ein feinsäuberlich ausgeschnittenes rechteckiges Loch im Holzfußboden. Etwas mehr als schulterbreit. Die Holzstiege hinunter ist steil. Wir machen uns rückwärts an den Abstieg. Mehrere hundert Jahre in anderthalb Metern. Das weiß getünchte Kellergewölbe ist niedrig. Wir müssen die Köpfe einziehen, gebückt stehen. Der Boden besteht aus dunklen quadratischen Steinen. Kühl ist es hier. Die Wände feucht. Zur Linken ein schmaler Durchgang.

Im zweiten Raum flackerndes Kerzenlicht. Hier wurde vor 15 Jahren die Mikwe entdeckt. Das rituelle Tauchbad ist nicht viel größer als das Loch im Boden, durch das wir eben gestiegen sind. Ich lasse mich auf der niedrigen Empore am Durchgang nieder. Ob hier Tücher und Kleidung gelegen oder helfende Hände gewartet haben? Der rechteckige gemauerte Schacht liegt direkt vor meine Füßen. Sein Grund nicht auszumachen. Ein Mensch konnte hier damals vollständig untertauchen. Noch heute steht das Grundwasser hoch. Gleich um die Ecke des Hauses wird die Bocholter Aa gestaut.

Holztreppe und geöffneter Boden.
Abstieg zur Mikwe.
Gekälktes steinernes Gewölbe mit schulterhoher dunkler Holztreppe. Der geflieste Boden ist teils rot, teils hell, teils dunkel.
Vorraum Mikwe mit Holztreppe.
Gekälktes Gewölbe mit Kabeln an der Decke, dunkler Boden und rechteckiger Einlass am rechten Rand.
Mikwe.

Das Wasser ist essenziell für die rituelle Reinigung.

Eine Mikwe muss von „lebendigem Wasser“ gespeist werden, erklärt mir Wilhelm Bauhus. Gesammeltes Regenwasser, Quellwasser oder Grundwasser. Zur spirituellen Reinigung. Kein Wasser von außen. Auch kein warmes. Auch nicht im Winter. Wir sprechen hier leiser als oben im Salon. Das einzige kleine Fenster ist verschlossen, geht gen Westen. Zum Kleinen Hook hinaus. Zum Abendstern? Auf einer zweiten Empore hinter der Mikwe flackern Kerzen. Die Wasseroberfläche liegt still im Dunkeln. Ohne Spiegelungen.

 

Frisörmeister Berno Rohring hat uns heute mit seiner Tochter Pia, Inhaberin des barocken Salons Rohring, die Türen in die Geschichte seines Hauses in Gemen geöffnet. Mir und dem Team der Expedition Münsterland um Dr. Wilhelm Bauhus, dem Leiter der Arbeitsstelle Forschungstransfer der Universität Münster Münster.

Rechteckiger Einlass aus Klinkern im Boden, der mit wenig Wasser gefüllt ist. An der linken und rechten oberen Ecke Teelichter, an der rechten unteren Ecke ein Gewicht.

Die Expedition Münsterland bringt seit 2010 Universität und Region ins Gespräch. Im Rahmen des Teil-Projektes x_Orte werden Wissenschaft und Alltag an weitgehend vergessenen Orten des Münsterlandes zusammengebracht.
Wissenschaftlich, künstlerisch und kulturell aufbereitet, werden ihre Geschichten der Öffentlichkeit wieder in Erinnerung gerufen und zugänglich gemacht. Dabei arbeiten WissenschaftlerInnen, Studierende, lokale Institutionen und interessierte BürgerInnen im Sinne der Citizen Science zusammen. Anhand von Ortserlebnissen werden aktuell Spuren jüdischen Lebens im Münsterland aufgearbeitet. Neben der Mikwe in Gemen werden im Rahmen des Projekts die jüdischen Friedhöfe in Münster und Darfeld, der Kibbuz in Westerbeck und die ehemalige Synagoge in Ascheberg einbezogen.

Wand des Gewölbes mit elektrischem Licht.
Gewölbe im Mikwe-Keller.

Text: Claudia Ehlert
Bild 1–8: Andreas Wessendorf, Universität Münster, AFO